#shortstorydienstag
#shortstorydienstag

Erdbeerfeld

Ich mache zum ersten Mal beim #shortstorydienstag von der Autorin Katy J. Michels mit. Eigentlich ist es eine Instagram-Aktion, aber man darf die Geschichten auch auf dem eigenen Blog veröffentlichen.

Los gehts:


Bedächtig lässt sie sich erst auf das rechte, dann auf das linke Knie sinken. Ihr Rücken protestiert lautstark, so dass sie ein leises Aufseufzen nicht unterdrücken kann. Der Boden unter ihr ist staubig und ein bisschen zu warm. Es fühlt sich unangenehm an, aber wenn sie Erdbeeren pflücken möchte, wird sie das ertragen müssen. Die Erinnerungen ihrer Kindheit und Jugend beherrschen ihr Leben, neue Erinnerungen finden keinen Raum mehr in ihrem Kopf.  

Sie schließt die Augen. Der süße Duft der Erdbeeren katapultiert sie mit einem Ruck in ihre Kindheit zurück. 

Johanna war sechs. Gestern war die Zahnfee da gewesen und hatte ihr fünfzig Pfennig unters Kopfkissen gelegt. Ihr erster Milchzahn war ausgefallen und nun war sie aufgeregt. Wurde sie jetzt erwachsen?  

Papa stand neben ihr. Normalerweise hatte er auf seiner Arbeit viel zu tun, aber heute hatte er sich für sie einen Tag frei genommen, denn es war ihr Geburtstag und sie hatte sich gewünscht, mit ihm Erdbeeren pflücken zu gehen.  

Die Sonne brannte in ihrem Nacken und Schweiß rann ihr den Rücken hinab. Das Gemurmel der andren Erdbeerpflücker summte in ihren Ohren. Hier und da summte eine Biene oder eine Hummel auf der Suche nach Nahrung an ihr vorbei.  

„Schau, Süße, diese rosa Erdbeere ist noch nicht reif. Du musst die dunkelroten pflücken, die schmecken am besten.“ Papas Fältchen um die Augen waren ihr so vertraut. Wenn er sie so anblickte, wie jetzt gerade, sah man ganz deutlich, dass es Lachfältchen waren. Papa lachte oft. Er klang dann immer wie eine glückliche Ziege. Niemand konnte ihm böse sein, wenn er dieses seltsame Geräusch von sich gab. Wie sehr sie es liebte, mit ihm gemeinsame Zeit zu verbringen, bemerkte sie heute das erste Mal bewusst. Ob das auch ein Zeichen dafür war, dass sie erwachsen wurde?  

Spontan sprang sie auf und warf sich in seine Arme, die er im letzten Moment öffnen konnte. Sein Lachen ließ die Menschen um sie herum aufblicken. Die meisten lächelten sie an, ein Mann legte seinen Arm um die Frau, die neben ihm stand, als würde er sich ein Beispiel an Johanna und ihrem Vater nehmen.  

Johanna zuckt zusammen, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte Wo ist sie noch mal? Gerade eben war sie noch mit Papa auf dem Erdbeerfeld und jetzt steht ein fremdes Mädchen neben ihr und spricht sie an. „Komm Oma, lass uns gehen. Du bist schon ganz blass. Ich komme morgen noch mal alleine her und bringe dir Erdbeeren vorbei.“  

Während sie mit Hilfe von Tinchen, der Name ist ihr eben erst wieder eingefallen, aufsteht, fragt sie sich, was in sie gefahren ist. Alte Erinnerungen lassen sich nicht wiederholen. Sie ist froh, dass sie ihren Vater in Kürze wiedertreffen wird. Seit er von ihr gegangen ist, vermisst sie ihn sehr.  


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